Es sind bereits
2162
Stellungnahmen eingegangen. Bei einigen haben uns die Autor:innen erlaubt, sie hier zu veröffentlichen:
Name Stellungnahme an die Staatsanwaltschaft
Ann Rapp die Menschen, die sich dafür einsetzen, dass sich der Staat an die eigene Verfassung hält und die Lebensgrundlagen aller Generationen sichert, zu kriminalisieren ist eine Absurdität. Die Fakten liegen ja seit Jahrzehnten auf dem Tisch und ebenso lange wird protestiert - erfolglos. Wer also verantwortungsbewusst, mitmenschlich und mit beiden Beinen auf dem Boden der Fassung steht, der geht jetzt den Weg zivilen Ungehorsams oder unterstützt ihn, weil dies nachweislich die beste Chance hat, noch die Überlebensmöglichkeiten für die meisten Menschen zu bieten.

Stellen Sie die Ermittlungen gegen die Letzte Generation und gegen andere Klima- und Umweltschützer*innen im zivilen Ungehorsam ein und machen Sie sich nicht selbst der Beihilfe am Ökozid schuldig!
Danke.
nur für die StA sichtbar mit meiner Einlassung möchte ich deutlich machen, dass die Aktivitäten der beschuldigten Klimaaktivist:innen der Letzten Generation einen breiten gesellschaftlichen Rückhalt haben und hier die Überbringer der „schlechten Botschaft“ zu Unrecht kriminalisiert werden sollen.

Im Rahmen der Initiative „Handeln statt kriminalisieren“ (https://handeln-statt-kriminalisieren.com/) haben bisher ca als Initiator:innen, Erstunterzeichner:innen und weitere Unterzeichner:innen

Worum es uns geht
Wissenschaft hat den Auftrag, die eigene sachorientierte Expertise in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Das bedeutet immer dringlicher, Verantwortung für die (Über-)Lebensmöglichkeiten zukünftiger Generationen zu übernehmen, die durch den menschengemachten Klimawandel massiv bedroht sind. Zurecht stemmen sich immer mehr Menschen gegen das verantwortungslose „Weiter-So“, das sich häufig hinter der Fassade wohlfeiler Klimaschutzabsichten verbirgt. Die Protestformen sind mannigfaltig. Manche gehen an die Grenze dessen, was für die Bevölkerung in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat erträglich erscheint. Sie sind unseres Erachtens jedoch Ausdruck eines letzten Mittels, um die zuständigen politischen Akteur:innen wie die Gesellschaft insgesamt zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung zu bewegen.
Als Gruppe von Wissenschaftler:innen haben wir daher im April 2023 die untenstehende Erklärung verfasst, mit der wir zu einer angemessenen Akzentsetzung mahnen und auf diese Weise zur notwendigen Versachlichung der Debatte beitragen wollen.

Die Bundesregierung hat sich im Rahmen des Pariser Klimaschutzabkommens zur Einhaltung dazu verpflichtet

In den letzten Monaten waren die mediale Berichterstattung und der öffentliche Diskurs zum Thema Klimaaktivismus geprägt von Emotionen und Einseitigkeit. Anstatt die „störenden“, gleichwohl gewaltfreien Widerstandsformen der Aktivist:innen – wie etwa der Mitglieder der Letzten Generation – historisch und gesellschaftspolitisch korrekt einzuordnen, werden Aktionen und Aktivist:innen gleichermaßen ins Lächerliche gezogen, diskreditiert und kriminalisiert. Das geschieht zunächst auf der Ebene der Sprache, wenn von „Extremisten“, „Terroristen“, „Pest“ oder „Abschaum“ die Rede ist. In der Folge ist es dann nur ein kleiner Schritt in Richtung körperliche Gewalt gegen jene Personen, denen man zuvor implizit die Menschenwürde abgesprochen hat. Tatsächlich ist das Internet mittlerweile voll von erschreckenden Videoclips: PKWs, die nicht anhalten, sondern unbeirrt auf sitzende oder stehende Menschen zurollen. Tobende Autofahrer, die brüllen, stoßen, treten, schlagen.
Die Dynamik der Herabwürdigung hat aber nicht nur zu einer größeren Gefährdung der Aktivist:innen geführt, sondern auch dazu, dass erfolgreich vom eigentlichen Thema – dem Klimanotstand und der Dringlichkeit effektiver und rascher Maßnahmen – abgelenkt werden konnte.

Bezugnehmend auf die öffentliche Erklärung Handeln statt Kriminalisieren, in der rund 1.500 deutschsprachige Wissenschaftler:innen mit ihrer Unterschrift auf die Notwendigkeit hinweisen, dieser Dynamik entgegenzutreten, möchten auch wir Stellung beziehen. Als Eltern, Angehörige, Kolleg:innen, Freund:innen, Lehrer:innen, Kommiliton:innen von Klimaaktivist:innen oder einfach nur als Bürger:innen, die diese Entwicklung mit Sorge beobachten – gewissermaßen also aus der Mitte der Gesellschaft –, fordern wir die Politik, die Medien und letztlich jede und jeden dazu auf …
… sich mit den inhaltlichen Forderungen der Aktivist:innen ernsthaft auseinanderzusetzen und entschlossen wirkungsvolle Maßnahmen gegen den menschengemachten („anthropogenen“) Klimawandel mit seinen katastrophalen Folgen zu ergreifen.
… zuzugestehen, dass der zivile Ungehorsam – insofern er uneigennützig ist, friedliche Protestformen wählt und den Rechtsstaat nicht in Frage stellen, sondern stärken will – in bestimmten Situationen das letzte Mittel sein kann, auf einen dringenden politischen Handlungsbedarf aufmerksam zu machen.
… alles in der eigenen Macht Stehende zu unternehmen, der Entmenschlichung und Kriminalisierung der Klimaaktivist:innen entgegen zu treten und nicht jene Menschen an den Rand der Gesellschaft zu drängen, die sich unter großem persönlichem Einsatz für den Fortbestand genau dieser Gesellschaft und ihrer zentralen Werte einsetzen.

Zudem haben 53 namhafte Wissenschaftler:innen im Rahmen der Initiative „Handeln statt kriminalisieren“ eindrückliche Videostatements abgegeben und sich damit gegen eine Kriminalisierung von Klimaaktivist:innen gestellt (https://handeln-statt-kriminalisieren.com/statements/):
Dr. Anne Baillot, Professorin für Germanistik und Digital Humanities, Le Mans Université
Dr. Wolfgang Beck, Professor für Pastoraltheologie und Homiletik, Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen / Frankfurt a.M.
Dr. Katrin Bederna, Professorin für Katholische Theologie / Religionspädagogik, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
Dr. Frank Best, Professor für Internationales Management, HTWG Konstanz
Dr. Marco Bohnhoff, Professor für Seismologie, GFZ Potsdam / FU Berlin
Dr. Andreas Christian Braun, Professor für Human-Environment Interactions, Kassel Institute for Sustainability
Dr. Julika Bürgin, Professorin für Bildung der Lebensalter / Politische Bildung, Hochschule Darmstadt
Dr. Chaitali Das, Professorin für trans- und internationale Soziale Arbeit, UAS Frankfurt
Dr. Jan Distelmeyer, Professor für Mediengeschichte und -theorie, Fachhochschule Potsdam / Universität Potsdam
Dr. Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie, FSU Jena
Dr. Asmaa El Maaroufi, Junior-Professorin für Islamische Theologie, Universität Münster
Dr. Susanne Foellmer, Professorin für Tanzwissenschaft, Coventry University
Dr. Niko Froitzheim, Professor für Geologie, Universität Bonn
Dr. Marion Gerards (und Laura Harter), Professorin für Musik und Soziale Arbeit, katho Nordrhein-Westfalen
Dr. Klaus Gourgé, Professor für Nachhaltiges Management, HfWU Nürtingen-Geislingen
Dr. Matthias Grotkopp, Junior-Professor für Filmwissenschaften, FU Berlin
Dr. Wilhelm Guggenberger, Professor für Sozialethik und Dekan der Theologischen Fakultät, Universität Innsbruck
Dr. Miriam Havel, Privatdozentin und Humanmedizinerin, LMU München
Dr. Martin Heidebach, Akademischer Oberrat für Öffentliches Recht, LMU München
Dr. Rasmus Hoffmann, Professor für Soziologie / Soziale Ungleichheit, Universität Bamberg
Dr. Stephan Höyng, Professor für Männer- und Jungenarbeit, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
Dr. Raphaela Kell, Politikwissenschaftlerin, RWTH Aachen
Dr. Markus Krajewski, Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht, FAU Erlangen-Nürnberg
Dr. Oliver Laasch, Professor für Sustainability, ESCP Berlin
Dr. Johann Graf Lambsdorff, Professor für Volkswirtschaftslehre, Universität Passau
Dr. Claus Lamm, Professor für Soziale Neurowissenschaften, Universität Wien
Dr. Harald Lesch, Professor für Astrophysik, LMU München
Dr. Martin M. Lintner, Professor für Moraltheologie, Philosophisch-Theologische Hochschule Brixen
Dr. Andreas Lob-Huedepohl, Professor für Theologische Ethik, KHSB Berlin
Dr. Marie-Therese Mäder, Dozentin für Medien- und Religionswissenschaften, Fachhochschule Graubünden / LMU München
Dr. Claudia Paganini, Professorin für Medienethik, HFPH München / Universität Innsbruck
Dr. Niko Paech, Dozent für Plurale Ökonomik, Universität Siegen
Dr. Dr. Helge Peukert, Professor für Plurale Ökonomik, Universität Siegen
Dr. Clemens Pornschlegel, Professor für Germanistik und Komparatistik, LMU München
Dr. Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme, HTW Berlin
Dr. Dr. Johanna Scheuermann, Molekularbiologin, Psychiaterin, Isar-Amper-Klinikum München
Dr. Barbara Schramkowski, Professorin für Grundlagen und Methoden Sozialer Arbeit, DHBW Villingen-Schwenningen
Dr. Michael Schüßler, Professor für Praktische Theologie, Eberhard Karls Universität Tübingen
Dr. Stefan Simon, Professor für Konservierungswissenschaften, Rathgen-Forschungslabor der Staatliche Museen zu Berlin
Dr. Herbert Stepp, Physiker, LMU München
Dr. Krassimir Stojanov, Professor für Bildungsphilosophie, KU Eichstätt Ingolstadt
Dr. Wolfgang Streicher, Professor für Energieeffizientes Bauen, Universität Innsbruck
Dr. Michael Succow, Emeritierter Professor für Biologe, Greifswald, Alternativer Nobelpreis der Right Livelihood Foundation
Dr. Andreas Tietze, Professor für Soziale Arbeit, Ev. Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg
Dr. Markus Vogt, Professor für Sozialethik, LMU München
Dr. Annette Vowinckel, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte, ZZF Potsdam
Dr. Jutta Weber, Professorin für Mediensoziologie, Universität Paderborn
Dr. Ernst von Weizsäcker, Honorarprofessor und Ehrenpräsident des Club of Rome, Emmendingen
Dr. Frauke Wiese, Professorin für Transformation der Energiesysteme, Europa-Universität Flensburg
Dr. Susanne Winterling, Professorin für Material and Medium Based Art, Oslo National Academy of the Arts
Dr. Markus Wissen, Professor für Gesellschaftswissenschaften, HWR Berlin
Dr. Ruben Zimmermann, Professor für Neues Testament, Hermeneutik und Ethik, JGU Mainz
Dr. Patrick Zoll SJ, Professor für Metaphysik, HFPH München


Stand 24.03.2024 haben zudem 2.534 Personen die Open Petition „Offener Brief: Aus der Mitte der Gesellschaft“ unterzeichnet um eine Erklärung zum Umgang mit Klimaaktivist:innen abzugeben. (https://www.openpetition.de/petition/online/offener-brief-aus-der-mitte-der-gesellschaft).

Dass die Anschuldigungen der Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen die betroffenen Personen der Letzten Generation juristisch äußerst fragwürdig sind, zeigt eine Veröffentlichung von mehr als 60 Expert:innen für Verfassung und Völkerrecht. Die Professor:innen aus ganz Deutschland haben einen entsprechenden offenen Brief unterzeichnet, der auf dem “Verfassungsblog” veröffentlicht wurde (https://verfassungsblog.de/fur-eine-volker-und-verfassungsrechtskonforme-klimaschutzpolitik/):

Für eine völker- und verfassungsrechtskonforme Klimaschutzpolitik
Effektive Maßnahmen gegen die Erderwärmung statt Verwässerung des Klimaschutzgesetzes!
Berichte über Extremwetterereignisse in allen Erdteilen haben uns in den letzten Wochen noch einmal deutlich vor Augen geführt, welche Folgen die Klimaveränderung haben wird. Darum sind energische und wirksame Maßnahmen zur Reduktion des CO2-Ausstoßes von größter Wichtigkeit für die Erhaltung der Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens.
Das Bundesverfassungsgericht hat im März 2021 klargestellt, dass das Grundgesetz zu wirksamen Maßnahmen gegen die Erderwärmung verpflichtet. Diese Pflicht gilt auch gegenüber zukünftigen Generationen, deren Möglichkeiten, ihre Freiheitsrechte auszuüben, ohne entsprechende Maßnahmen erheblich beeinträchtigt würden.
Völkerrechtlich hat sich Deutschland konkret zu wirksamen Maßnahmen verpflichtet, um den Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2° C über dem vorindustriellen Niveau zu halten und Anstrengungen zu unternehmen, ihn auf 1,5° C zu begrenzen. Neben Deutschland haben sich 194 weitere Staaten durch die Ratifikation des Übereinkommens von Paris von 2015 zu diesem Ziel bekannt und dadurch deutlich gemacht, dass ein globaler Konsens besteht. Diese Verpflichtung hat das Bundesverfassungsgericht als Konkretisierung des in Artikel 20a Grundgesetz verankerten Klimaschutzziels angesehen und so die Einhaltung der völkerrechtlichen Vorgaben verfassungsrechtlich abgesichert.
Hierfür sind im Bundes-Klimaschutzgesetz konkrete Ziele sowie Mechanismen festgelegt, mit denen die schrittweise Erreichung dieses Zieles gewährleistet werden soll. Gegenwärtig ist aber eine Novelle geplant, die die sektorspezifischen Ziele schwächt. Damit sind die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts in Gefahr, die verlangen „dass frühzeitig transparente Maßgaben für die weitere Ausgestaltung der Treibhausgasreduktion formuliert werden, die für die erforderlichen Entwicklungs- und Umsetzungsprozesse Orientierung bieten und diesen ein hinreichendes Maß an Entwicklungsdruck und Planungssicherheit vermitteln“.
Die Auseinandersetzungen und fachwissenschaftlichen Debatten zum Klimaschutz werden derzeit von Diskussionen über bestimmte Protestformen, wie z.B. Straßenblockaden, überlagert. Dabei sind insbesondere Forderungen nach einer Verschärfung straf- und polizeirechtlicher Reaktionen beunruhigend und in vielen Fällen verfassungsrechtlich fragwürdig, denn das Versammlungsrecht schützt auch Protestformen, die disruptiv wirken und von der Mehrheit als Störung empfunden werden. Vor allem aber lenken diese Debatten von den dringend nötigen Auseinandersetzungen über die konkrete Umsetzung der verfassungs- und völkerrechtlichen Klimaschutzpflichten ab.
Vor diesem Hintergrund fordern wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Verfassungs- und Völkerrechts die gesetzgebenden Organe des Bundes auf, das Klimaschutzgesetz nicht abzuschwächen. Wir fordern die Bundesregierung auf, ein effektives Klimaschutzprogramm mit ausreichenden Maßnahmen zur Einhaltung der Klimaschutzziele und damit der völker- und verfassungsrechtlichen Verpflichtungen zu beschließen.
Erstunterzeichner*innen:
Prof. Dr. Isabel Feichtner, Universität Würzburg
Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano, Universität Kassel
Prof. Dr. Thomas Groß, Universität Osnabrück
Prof. Dr. Remo Klinger, HNE Eberswalde
Prof. Dr. Rike Krämer-Hoppe, Universität Regensburg
Prof. Dr. Markus Krajewski, Universität Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. Nora Markard, Universität Münster
Prof. Dr. Alexander Thiele, BSP Business and Law School Berlin
Prof. Dr. Jochen von Bernstorff, Universität Tübingen
Weitere Unterzeichner*innen
Prof. Dr. Jelena von Achenbach, Universität Gießen
Prof. Dr. Andreas von Arnauld, Universität Kiel
Prof. Dr. Helmut Aust, Freie Universität Berlin
Prof. Dr. Jelena Bäumler, Universität Lüneburg
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Susanne Baer, Humboldt-Universität zu Berlin
Prof. Dr. Cengiz Barskanmaz, Hochschule Fulda
Prof. Dr. Sigrid Boysen, Universität der Bundeswehr Hamburg
Prof. Dr. Pascale Cancik, Universität Osnabrück
Prof. Dr. Claus Dieter Classen, Universität Greifswald
Prof. Dr. Philipp Dann, Humboldt-Universität zu Berlin
Prof. Dr. Dr. Felix Ekardt, Universität Rostock
Prof. Dr. Kurt Faßbender, Universität Leipzig
Prof. Dr. Anuscheh Farahat, Universität Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. Michael Fehling, Bucerius Law School Hamburg
Prof. Dr. Andreas Fisahn, Universität Bielefeld
Prof. Dr. Sina Fontana, Universität Augsburg
Prof. Dr. Dr. Günter Frankenberg, Universität Frankfurt am Main
Prof. Dr. Thomas Giegerich, Universität des Saarlandes
Prof. Dr. Christoph Goos, Hochschule Harz
Prof. Dr. Alexander Graser, Universität Regensburg
Prof. Dr. Dirk Hanschel, Universität Halle-Wittenberg
Prof. Dr. Felix Hanschmann, Bucerius Law School Hamburg
Prof. Dr. Georg Hermes, Universität Frankfurt am Main
Prof. Dr. Mathias Hong, Hochschule Kehl
Prof. Dr. Wolfgang Kahl, Universität Heidelberg
Prof. Dr. Markus Kaltenborn, Universität Bochum
Prof. Dr. Ann-Katrin Kaufhold, Universität München
Prof. Dr. Andrea Kießling, Universität Frankfurt am Main
Prof. Dr. Pia A. Lange, Universität Bremen
Prof. Dr. Silke Ruth Laskowski, Universität Kassel
Prof. Dr. Markus Ludwigs, Universität Würzburg
Prof. Dr. Anna Katharina Mangold, Universität Flensburg
Prof. Dr. Nele Matz-Lück, Universität Kiel
Prof. Dr.  Mehrdad Payandeh, Bucerius Law School Hamburg
Prof. Dr. Birgit Peters, Universität Trier
Prof. Dr. Niels Petersen, Universität Münster
Prof. Dr. Dr. Maximilian Pichl, Hochschule RheinMain
Prof. Dr. Arne Pilniok, Universität Bielefeld
Prof. Dr. Dagmar Richter, Universität des Saarlandes
Prof. Dr. Michael Riegner, Universität Erfurt
Prof. Dr. Kirsten Schmalenbach, Universität Salzburg
Prof. Dr. Reimund Schmidt-De Caluwe, Universität Halle-Wittenberg
Prof. Dr. Dr. Sabine Freifrau von Schorlemer, Technische Universität Dresden
Prof. Dr. Angelika Siehr, Universität Bielefeld
Prof. Dr. Dominik Steiger, Technische Universität Dresden
Prof. Dr. Dr. h.c. Peter-Tobias Stoll, Universität Göttingen
Prof. Dr. Tarik Tabbara, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
Prof. Dr. Pierre Thielbörger, Universität Bochum
Prof. Dr. Emanuel V. Towfigh, EBS Universität Wiesbaden
Prof. Dr. Dana-Sophia Valentiner, Universität Rostock
Prof. Dr. Joachim Wieland, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer
Vertr.-Prof. Dr. Tim Wihl, Universität Erfurt
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gerd Winter, Universität Bremen
Prof. Dr. Johanna Wolff, Universität Osnabrück
 
Weitere Unterzeichner*innen nach Veröffentlichung
Prof. Dr. Kristina Balleis, Technische Hochschule Aschaffenburg
Asst. Prof. Dr. Hannah Birkenkötter, ITAM Mexiko/Humboldt-Universität zu Berlin
Dr. Maxim Bönnemann, University of Michigan
Prof. Dr. Tobias Brönneke, Hochschule Pforzheim
Prof. Dr. Manuel Brunner, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen
Dr. Andreas Buser, New York University / Freie Universität Berlin
Dr. Anne Dienelt, Universität Hamburg
Prof. Dr. Robert Frau, TU Bergakademie Freiberg
Dr. Andreas Gutmann, Universität Kassel
Dr. Nina Keller-Kemmerer, Universität Gießen
Prof. Dr. Lando Kirchmair, Universität der Bundeswehr München
Dr. Romy Klimke, Universität Halle-Wittenberg
Dr. Michael von Landenberg-Roberg, Humboldt-Universität zu Berlin
Dr. Anna-Julia Saiger, Universität Freiburg
Prof. Dr. Lucia Sommerer, Universität Halle-Wittenberg
Dr. Petra Sußner, Humboldt-Universität zu Berlin
Dr. Berit Völzmann, Universität Frankfurt am Main
Prof. Dr. Christian Walter, Universität München


Weiterhin möchte ich auf eine Veröffentlichung von Prof. Dr. Jochen von Bernstorff (Professor für Staatsrecht, Völkerrecht, Verfassungslehre und Menschenrechte an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen) hinweisen, der am 04. Juni im Verfassungsblog veröffentlicht wurde (https://verfassungsblog.de/ist-der-umgang-mit-klimaprotesten-in-deutschland-menschenrechtswidrig/):

Ist der Umgang mit Klimaprotesten in Deutschland menschenrechtswidrig?
In einem bemerkenswerten und für die Geschichte der Bundesrepublik wohl präzedenzlosen Schritt hat sich der Sprecher des UN-Generalsekretärs Antonio Guterres, dem höchsten Vertreter der Weltorganisation, letzte Woche zum staatlichen Umgang mit Klimaprotesten in Deutschland geäußert:
„Klimaaktivisten – angeführt von der moralischen Stimme junger Menschen – haben ihre Ziele auch in den dunkelsten Tagen weiterverfolgt. Sie müssen geschützt werden, und wir brauchen sie jetzt mehr denn je.“
Konkreter Anlass waren Fragen zu den im Auftrag der Generalstaatsanwaltschaft München durchgeführten bundesweiten Durchsuchungen gegen Mitglieder der Protestbewegung „Letzte Generation“. Die Bayerische Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus der Generalstaatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen wegen des Verdachts auf die „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ (§129 StGB) “aufgrund zahlreicher Strafanzeigen aus der Bevölkerung” aufgenommen.
Ähnliche Kritik aus New York an Einschränkungen der Versammlungsfreiheit in UN-Mitgliedstaaten trifft sonst in der Regel halbautokratische und autokratische Regime. Es muss sich also um ein Versehen handeln, oder waren die UN-Leitungsgremien einfach falsch informiert worden? Wenn man andere Stellungnahmen der spezialisierten UN-Menschenrechtsorgane zum Schutz des weltweit unter Druck stehenden Versammlungsrechts aus jüngster Zeit heranzieht, zeigt sich, dass diese Reaktionen der UN einer konkreten Besorgnis über einen zunehmend versammlungsfeindlichen Umgang mit Protestgruppen auch in Deutschland entspringen. Es finden sich dort nicht nur kritische Äußerungen zu autoritären Regimen, sondern auch zu europäischen Staaten, wie z.B. dem Vereinigten Königreich oder Deutschland.
Wegen der in vielen Staaten der Welt zunehmenden Repressionen gegenüber friedfertigen Protestbewegungen, die vor allem auf Sitzblockaden zurückgreifen, hatten der UN-Menschenrechtsausschuss und auch der UN-Sonderberichterstatter sich in den letzten beiden Jahren wiederholt zu den menschenrechtlichen Standards im Umgang mit störenden Protestformen positioniert. Die dort identifizierten Gefahren für das Menschenrecht auf Versammlungsfreiheit sind auch für die deutsche Situation aufschlussreich.
Pauschale Kriminalisierung?
Der ebenenübergreifende grund- und menschenrechtliche Standard zur Problematik der Sitzblockaden ist ein eindeutiges Regel-Ausnahmeverhältnis: Störende, aber friedfertige Proteste, insbesondere Sitzblockaden, sind in der Regel von der grund- und menschenrechtlich garantierten Versammlungsfreiheit geschützt. Beeinträchtigungen Dritter wie z.B. solche durch Verkehrsbehinderungen heben den Schutz der Versammlungsfreiheit grundsätzlich nicht auf.
In diesem Zusammenhang weist der UN-Menschenrechtsausschuss wie das Bundesverfassungsgericht explizit darauf hin, dass auch von privaten Einrichtungen und der Gesellschaft insgesamt erwartet werden kann, dass sie ein gewisses Maß an Störungen als Ergebnis der Ausübung dieses Rechts akzeptieren.
Auch zur Frage der Strafbarkeit von Sitzblockaden finden sich konkrete Hinweise auf menschenrechtliche Grenzen bei den jüngeren Äußerungen der UN-Menschenrechtsorgane:
“Where criminal or administrative sanctions are imposed on organizers of or participants in a peaceful assembly for their unlawful conduct, such sanctions must be proportionate, non-discriminatory in nature and must not be based on ambiguous or overbroadly defined offences, or suppress conduct protected under the Covenant”
Danach darf der Staat nach den zuständigen regionalen und universalen Menschenrechtsgremien zwar konkrete von den Protesten ausgehende Störungen im Einzelfall in verhältnismäßiger Weise begrenzen. Hier kommt regelmäßig das Ordnungswidrigkeitenrecht zur Anwendung. Eine ausnahmsweise zulässige strafrechtliche Verfolgung jedoch setzt nach allen Menschenrechtsgremien eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem Recht auf Protest und den konkret betroffen Rechten Dritter voraus.
Zudem beobachten die UN-Berichte in vielen Staaten die Einführung oder Anwendung von weiten Straftatbeständen, die friedliche Proteste unter hohe Strafandrohungen stellen. Ein neues britisches Strafgesetz gegen störende Protestformen wurde vom UN-Hochkommissar vor wenigen Wochen für menschenrechtswidrig befunden. Auch in Deutschland ist eine Diskussion darüber entbrannt, ob eine Verfolgung von friedlichen Protestgruppen über § 129 StGB, der ein Strafmaß von bis zu fünf Jahren für die Bildung einer „kriminellen Vereinigung“ vorsieht, die richtige und vor allem grundrechtskonforme staatliche Antwort auf störende Sitzblockaden darstellt.
Eine strafrechtliche Verfolgung von friedlichen Protestformen über § 129 setzt voraus, dass mit den Protesten, also der Tätigkeit der Organisation, Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind, begangen werden. Allerdings muss nach dem oben dargelegten Standard jede Protestaktion einzeln und unter Berücksichtigung des Grund- und Menschenrechts auf Versammlungsfreiheit auf ihre Strafwürdigkeit hin überprüft werden. Eine pauschale staatliche Gleichsetzung von störenden Protesten mit dem Vergehen der Nötigung im Sinne von § 240 StGB oder anderen Straftatbeständen ist als solche bereits grund- und menschenrechtswidrig. Aus demselben Grund sind auch pauschale Verbote im Vorfeld von Versammlungen durch die zuständigen Behörden ohne konkrete Hinweise auf geplante Straftaten unverhältnismäßig.
Der „Chilling Effect“
Die pauschale Kriminalisierung von Versammlungsformen geht regelmäßig mit einer Einschüchterung von Protestgruppen und Sympathisanten einher. Hinzu kommen erweiterte Überwachungsmöglichkeiten des Staates, wenn trotz Friedfertigkeit der Proteste von Seiten des Staates die Schwelle zur strafrechtlichen Verfolgung überschritten wird. In Deutschland sind mit dem Anfangsverdacht einer Straftat nach § 129 StGB grundrechtsintensive strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen verbunden. Ähnlich abschreckende Überwachungsmaßnahmen von Protestgruppen werden von der UN derzeit in einer Reihe von überwiegend autokratischen Staaten beobachtet:
“Extensive surveillance by law enforcement is another result of the criminalization of environmental protesters and organizations. Such surveillance provides a channel through which the authorities can obtain information to later be used in thwarting protests and advocacy campaigns […] [and] creates a chilling effect which may deter others from participating in assemblies or joining organizations for the purpose of pursuing climate justice. “
Insbesondere eine präventiv-pauschalisierende Kriminalisierung friedlicher Protestformen, wie sie z.B. beim Vorgehen der bayrischen Staatsanwaltschaft als Motiv erkennbar ist, ist nach den UN-Organen grundsätzlich menschenrechtswidrig. Nicht zuletzt der von der Generalstaatsanwaltschaft und dem bayrischen LKA angebrachte Hinweis auf der Webseite der Protestgruppe „Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung gemäß § 129 StGB dar!“ zeigt ein problematisches staatliches Verhältnis nicht nur zur Versammlungsfreiheit, sondern auch zur Unschuldsvermutung, und damit zu zwei zentralen Werten des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates. Dasselbe gilt selbstredend für die ebenfalls in Bayern letztes Jahr angeordnete über Wochen andauernde Präventivhaft für Klimaaktivisten, die als solche gegen zentrale habeas-corpus-Rechte und die Versammlungsfreiheit verstieß und damit menschenrechtlich nicht zu rechtfertigen war. Zuletzt hatte der UN-Menschenrechtsausschuss eine vergleichbare Praxis zur Präventivhaft für Demonstranten in Aserbeidschan für menschenrechtswidrig erklärt.
Die UN-Organe verweisen zu Recht auf den sog. chilling effect von solchen pauschal-kriminalisierenden Maßnahmen, der in einem versammlungsfreundlichen, d.h. menschenrechtskonformen Gemeinwesen nicht eintreten darf. Dasselbe gilt wie gesagt für lange Haftstrafen für friedfertige Demonstranten, die auf der UN-Ebene und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte regelmäßig als unverhältnismäßig und damit menschenrechtswidrig moniert werden.
Insgesamt scheint es auch in Deutschland im öffentlichen Raum für viele Menschen schwieriger geworden zu sein, andere Meinungen und politischen Protest auszuhalten. Staatliche Organe sollten, so die diplomatischen Hinweise aus New York und Genf, aus menschenrechtlicher Sicht diesen medial verstärkten Trend nicht weiter befördern, sondern basalen Respekt auch vor der Meinung von Minderheiten vorleben und einfordern. Das gilt übrigens für alle friedfertigen Proteste gleich welcher politischer Couleur, von Abtreibungsgegnern über Corona-Leugner bis hin zur Friedensbewegung und eben den Klimaaktivisten. Dass es den staatlichen Organen und Gerichten insofern grundsätzlich verwehrt bleibt, das kommunikative Anliegen der Proteste inhaltlich zu bewerten, ist aber als solches kein taugliches Argument dafür, die gebotene verfassungs- bzw. menschenrechtskonforme Auslegung von weiten Straftatbeständen zu unterlassen. Mit den jüngsten Razzien bei gewaltlos agierenden Protestgruppen bewegt sich die bayrische Generalstaatsanwaltschaft zwar in einem globalen (repressiven) Trend, befindet sich dort aber eben in keiner guten Gesellschaft.

Aufgrund der oberen Ausführungen hoffe ich sehr, dass Sie die Aktivitäten der beschuldigten der Letzten Generation nicht als kriminelle Vereinigung ansehen, sondern als in der breiten Gesellschaft unterstütze Bemühungen die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens einzufordern.
Ursula Gsella als engagierte Demokratin und Bürgerin unseres Landes möchte ich meine tiefen Bedenken bezüglich der möglichen Anklageerhebung gegen Mitglieder der "Letzten Generation" unter dem Verdacht der Bildung einer kriminellen Vereinigung äußern. Ich erkenne die Bedeutung der Terrorismusbekämpfung und der Wahrung der öffentlichen Sicherheit an, betone jedoch, dass die hierbei angewandten Mittel verhältnismäßig sein und den Grundsätzen unseres Rechtsstaates entsprechen müssen. Die Wahrung des Gleichgewichts zwischen Sicherheit und den Grundrechten, wie dem der freien Meinungsäußerung und dem Recht auf gewaltfreien Protest, ist dabei unerlässlich.

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass kriminelle Vereinigungen typischerweise mit dem Ziel der persönlichen Bereicherung oder der Bekämpfung unliebsamer Personen(-gruppen) agieren, oftmals getrieben von niederen Motiven. Im starken Kontrast dazu verfolgt die "Letzte Generation" ausschließlich friedliche Mittel, um auf die Dringlichkeit der Klimakrise aufmerksam zu machen und für das Gemeinwohl zu kämpfen. Ihre Hauptforderung – die Einhaltung der eigenen Verfassung durch die Regierenden – spiegelt ein tiefes Engagement für die Grundprinzipien unserer Gesellschaft wider. Dieses Anliegen verdeutlicht, dass ihr Handeln nicht nur von einem hohen moralischen Bewusstsein geprägt ist, sondern auch das fundamentale Recht jedes Bürgers auf eine lebenswerte und sichere Zukunft adressiert.

Die Anwendung des §129 StGB auf die Klimaaktivisten der "Letzten Generation" wirkt vor diesem Hintergrund unverhältnismäßig. Es ist entscheidend, dass strafrechtliche Verfolgungen in einem angemessenen Verhältnis zu den begangenen oder mutmaßlichen Taten stehen und nicht übermäßig repressiv ausfallen.

Meine Bedenken hinsichtlich des Vorgehens gegen die "Letzte Generation" basieren auf folgenden Überlegungen:

1. Eine Strafverfolgung sollte die spezifischen Ziele und Methoden einer Gruppe berücksichtigen. Die "Letzte Generation" setzt sich auf friedliche Weise für die dringende Anliegen unserer Zeit ein und verfolgt dabei keinerlei persönliche Bereicherung oder Schädigung anderer, sondern strebt nach dem Gemeinwohl.

2. Der Einsatz für das Gemeinwohl und die Forderung nach Einhaltung der Verfassung sind essenzielle Bestandteile einer funktionierenden Demokratie. Eine Kriminalisierung dieser friedlichen Aktivitäten könnte nicht nur demokratische Freiheiten beschneiden, sondern auch einen negativen Präzedenzfall schaffen.

3. Angesichts der eskalierenden Klimakrise ist es von größter Bedeutung, dass gesellschaftliches Engagement und Dialog gefördert werden. Die Aktionen der "Letzten Generation" spiegeln eine legitime und dringende Forderung nach politischem Handeln wider. Ein repressives Vorgehen würde diesen wichtigen Diskurs untergraben.

Zusammenfassend appelliere ich an die Staatsanwaltschaft, die Entscheidung zur Anklageerhebung sorgfältig zu überdenken, insbesondere unter Berücksichtigung der friedlichen Natur, der ehrenhaften Ziele und der demokratischen Forderungen der "Letzten Generation". Die Achtung der Grundrechte und der konstruktive gesellschaftliche Dialog sollten stets im Vordergrund unserer Bemühungen stehen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe auf eine wohlüberlegte Entscheidung, die die Prinzipien unseres Rechtsstaates würdigt und unsere demokratischen Werte schützt.
Angela von Lorentz Ich bin Mutter von vier Kindern und arbeite als Beraterin in einer Psychologischen Beratungsstelle für Erziehungs-, Jugend-, Paar- und Lebensberatung.

Mich schockiert zutiefst, dass sich die Staatsanwaltschaft Neuruppin tatsächlich dazu entschieden hat, friedliche, für den Klimaschutz engagierte Menschen anzuklagen und ihnen die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorzuwerfen. Ich habe diese Nachricht mehrmals und ungläubig lesen müssen. Bisher hatte ich volles Vertrauen in die Unabhängigkeit unseres Rechtsstaats und war dankbar dafür, dass ich das Glück habe, in solch einem sicheren Land leben zu können. Dieses Vertrauen und diese Sicherheit sind in meinem Empfinden tief erschüttert: Tatsächlich kann ich mir kaum vorstellen, dass jemand ernsthaft glaubt, dass nicht vom (Nicht-) Handeln unserer Regierung in Bezug auf den Schutz unserer Lebensgrundlage, sondern von friedlichen Klimaschutzaktivist*innen eine Gefahr für die Gesellschaft ausgeht. Vielmehr befürchte ich zunehmend, dass es darum geht, Menschen einzuschüchtern und daran zu hindern, Versäumnisse der Machthabenden offenzulegen. Ich finde es doch sehr auffällig, wie willkürlich und teilweise übertrieben hart die Urteile für friedliche Aktionen von Mitgliedern der Letzten Generation ausfallen, auch im Vergleich zu anderen Straftaten.

Eine kriminelle Vereinigung – darunter verstehe ich Menschen, die sich zusammengetan haben, um sich zu bereichern, um mittels geplanter Straftaten einen persönlichen Vorteil für sich selbst oder eine sehr kleine Gruppe von Menschen zu erzielen. Und genau das ist es, was für die Menschen, denen Sie das vorwerfen, nicht zutrifft. Ganz im Gegenteil: Es geht um Menschen, die sich unter hohem persönlichen Einsatz für das Wohl Aller einsetzen. Die weder Zeit, noch Kosten scheuen, die hohe Risiken für ihre persönliche Zukunft eingehen, um uns alle zu schützen. Die nicht Profit, sondern die Gesundheit und das Wohlergehen aller Menschen, besonders der vulnerablen, im Blick haben. Es geht um Menschen, die in ganz besonderer Weise bereit sind, persönliche Opfer zu bringen, und die das aus Liebe zum Leben aller Menschen und aus einem hohen Gerechtigkeitsempfinden heraus tun. Sie wollen darauf hinwirken, dass unsere Regierung ihre eigenen Gesetze befolgt – was selbstverständlich sein sollte, aber nicht ist. Schon mehrmals wurde die Klimaschutzpolitik der Bundesregierung von Gerichten als rechtswidrig verurteilt, das völkerrechtlich bindende Pariser Abkommen wird nicht eingehalten und Artikel 20 des Grundgesetzes wird tagtäglich mit Füßen getreten durch politische Entscheidungen, die unser Leben und das zukünftiger Generationen gefährden. Hier wird deutlich, dass unsere Regierung nicht ausschließlich unser Wohlergehen, sondern Profitinteressen z.B. fossiler Konzerne im Blick hat.

Ich rufe alle Richter*innen dazu auf, sich auf ihren richterlichen Eid zu besinnen und den Mut aufzubringen, unabhängig von politischen und anderen Machtinteressen zu entscheiden und den Blick auszuweiten auf die Gesamtsituation: Mitglieder der Letzten Generation verüben nicht aus persönlichen Interessen Straftaten, sondern aus einer verzweifelten Ratlosigkeit gegenüber einem Machtapparat, der uns alle massiv gefährdet. Spätestens seit dem IPCC-Bericht 2018 ist überdeutlich geworden, dass wir entschieden umsteuern müssen – was bis heute nicht geschehen ist. Schon vor mehr als 50 Jahren – also schon Jahre vor meiner Geburt – haben renommierte Wissenschaftler*innen auf die Überlastung unseres Planeten aufmerksam gemacht und ein Umdenken gefordert (Club of Rome: Die Grenzen des Wachstums, 1972). Seither haben unzählige Menschen demonstriert, Petitionen eingereicht, haben Umweltaktivist*innen kreative und spektakuläre Aktionen im legalen Bereich durchgeführt – und ja, irgendwann auch jenseits des legalen Bereichs. Menschen, die außerhalb ihres gemeinwohlorientierten Engagements juristisch nicht in Erscheinung getreten sind, redliche Bürger*innen, die sich um eine ethisch korrekte Lebensform bemühen und sich perfiderweise damit konfrontiert sehen, dass das nicht ausreicht. Welche Möglichkeiten haben Menschen heute, um die Gefahr, die der Klimawandel mit sich bringt, abzuwenden? Was haben die unzähligen Menschen auf Fridays For Future-Demonstrationen erreichen können? Was die Petitionen und Briefe?
In Berlin hungern aktuell Menschen dafür, dass die Bundesregierung das ausspricht, was wissenschaftlicher Konsens ist. Sie sind bereit, dafür in den Tod zu gehen. Vor einigen Wochen haben Minderjährige ihrer Verzweiflung Ausdruck verliehen und einen Hilfeschrei am Bundeskanzleramt angebracht. Und was ist die Antwort? Ignoranz, Handschellen und Strafanzeigen. Mich erschüttert zutiefst, wie auf berechtigte Interessen von Menschen, auf ihre basalsten Grundbedürfnisse reagiert wird. Auf ihr Bedürfnis nach Leben, nach Gesundheit, nach sozialem Zusammenhalt und Sicherheit.

Ich rufe alle Richter*innen dazu auf, unser Recht auf Versammlung hochzuachten als demokratische Grundstruktur, die der besonderen Geschichte unseres Landes Rechnung trägt. Bitte bedenken Sie in Ihrem Urteil, dass Demokratie und gemeinwohlorientiertes gesellschaftliches Engagement besonders geschützt werden müssen, dass beides leider wieder zunehmend gefährdet ist. Schauen sie den angeklagten Menschen in die Augen und fragen Sie sich, was sie bewegt, was sie antreibt, so zu handeln. Fragen Sie diese Menschen, was ihr Ziel ist, was ihre Zukunftsvision ist. Sie werden nichts von Profit und Vorteilsnahme hören. Sie werden von einer Welt hören, in der alle Menschen in Gesundheit, Gerechtigkeit und Sicherheit überleben können.